
Je digitaler die Welt wird, umso größer wird die Sehnsucht nach dem echten, empathischen, unfertigen, analogen, kreativen, träumenden, spirituellen und schwitzenden Menschlichen.
Zukunft der Markenführung (3/4)
Die sieben Sehnsüchte im „Age of You“
Ein Wandel vollzieht sich immer dialektisch. Trends erzeugen Gegentrends. Im Kern kann man das, was nun kommt, das „Zeitalter des Menschlichen“ nennen. Denn je digitaler die Welt wird, umso größer wird die Sehnsucht nach dem echten, empathischen, unfertigen, analogen, kreativen, träumenden, spirituellen und schwitzenden Menschlichen. Hype-Themen wie das „Internet of Things“, die selbstfahrenden Autos, Robotic Butler, Big Data, 3D-Drucker, Smart Home und M-Health dienen am Ende nur dem Menschen und dem Erfüllen seiner Bedürfnisse und Wünsche. Darauf möchte ich mich hier konzentrieren.„Das knappe Gut der Zukunft in digitalen Kanälen ist Achtsamkeit nach innen und außen.“ Aus dem Vortrag "Was kommt nach der Digitalisierung? Brand Resilience: Warum starke Marken das Einzige sind was bleibt". Marketing Management Kongress (MMK) 2015 in Berlin
So entstehen aus meiner Sicht sieben Sehnsuchtsfelder – gerade aus der Digitalisierung und ihrem Einfluss auf unser Leben heraus. Natürlich können es auch acht, neun oder zehn sein, aber es fächert sich eben auf und bietet Marken Entwicklungs- und Attraktivitätspotenziale. Vielleicht finden Sie ja eigene:
1. Identität: Je mehr wir digital von uns veröffentlichen, uns auf dem Marktplatz der sozialen Medien vermarkten, zum Beispiel mit „Selfies“ (in Zukunft mehr mit Sticks, damit man auch den Hintergrund unseres Lebens besser sieht) und diese in Likes bewerten lassen, umso unsicherer werden wir. Wer sind wir wirklich? Die Suche nach Orientierung und Halt ist enorm. Dazu kommen Wertediskussionen im öffentlichen Raum. Was ist europäisch und was ist deutsch? Wie gelingt ein gutes Leben?
Das Leben ist und bleibt eine Baustelle. Marken als Wertespeicher und Sinnstifter bieten hier augenscheinlich Halt, Orientierung und Identifikation. Von dem einfachen oberflächlichen, lifestyligen „Was ich kaufe, bin ich“ hin zu einem klaren Wertebekenntnis echter Good Brands wie die GLS Bank oder Patagonia, die für einen echten gesellschaftlichen Beitrag stehen. Marken sind Wegweiser und Haltegriffe individueller Entwicklung, die natürlich einer echten Selbsterkenntnis und Identitätsbildung nur den Weg weisen können.
Einer der am schnellsten wachsenden Märkte ist jener der Selbst- und Lebenshilfe. Dabei geht es nicht um Egoismen, sondern um das Zugehörigsein, um das Identifizieren durch selbstgewählten Sinn und durch Wertegemeinschaften wie Freunde, Vereine, Genossenschaften, echte oder virtuelle Stammtische oder eben Communities. Das wahre, erlöste „Ich“ verwirklicht sich nur in der Gemeinschaft.
Schlüsselfragen der Zukunft: Welche Identifikationsangebote macht Ihre Marke? Wer soll zugehörig sein? Wer nicht?
2. Freiheit: » Richard David Precht schreibt in der ZEIT sehr schön von der „digitalen Wohlfühlmatrix“ , mit der Google, Amazon, Spotify & Co. durch ihre Vorschläge, was zu uns passt, uns vom Mühsal der eigenen freien Entscheidung befreien wollen. Das Gegenteil jedoch wird der Fall sein. Kuratierter Konsum (früher hieß das mal „Fachberatung“) als neues vorkonfiguriertes Beratungsmodell – wie Outfittery und Modomotto oder kuratierte Buchhandlungen wie Osiander und individuelle Reisen – werden natürlich im Premiumsegment weiter wachsen. Aber am Ende wird die Differenzierung wieder darüber kommen, was der einzelne selbst aus seiner eigenen Freiheit auswählt.
Auch Off-Marken, die es ermöglichen „Ich bin dann mal weg“ zu sagen, werden prosperieren. » Analog wird das neue Bio sein, wie der schöne Buchtitel von Andre Wilkens lautet. Auch gesellschaftspolitisch wird der Begriff „Freiheit“ und der Kampf darum uns seit den Vorkommnissen 2015 wieder stark beschäftigen und aus der Wohlfühlmatrix des Neo-Biedermeiers herausholen.
Schlüsselfrage der Zukunft: Die Frage „Wofür stehst du und wie kämpfst du dafür?“ wird wieder relevant! Dazu braucht es Marken mit echter Haltung und Charakter – und keine Gewinnspiele. Wie kann Ihre Marke diesem Anspruch gerecht werden?
3. Kreativität: Je mehr algorithmisiert, uns Aufgaben abgenommen werden, desto mehr lassen sich unsere Kreativitätspotenziale allein und in der Gemeinschaft verwirklichen. Der Konzern Apple sagt von sich, dass er schon immer an der Schnittstelle von Technik und Kunst agiert und den Menschen Werkzeuge zur Verfügung stellt, mit denen sie ihr kreatives Leben entfalten können. Fotos, Videos, Malen, Schreiben – jeder kann ein Künstler sein und auf Instagram, Pinterest und Etsy seine Kreativität vermarkten. Jeder kann sein Brot backen, sein Bier brauen, seinen Schuh gestalten, Rezepte erfinden und es mit anderen in der „Creative Cloud“ teilen, auf Skillshare auch andere dazu befähigen und sich mit ihnen vernetzen.
Schlüsselfragen der Zukunft: Wieviel Kreativität bringt Ihre Marke als Plattform für Ihre Nutzer und Kunden? Wie vernetzen Sie die Kreativpotenziale?
4. Singularität: „A person is a person because of a person“. Der Mensch ist immer nur durch die Sicht einer anderen Person eine Persönlichkeit. Deswegen sind wir Teil der Gesellschaft, in diversen Communities. Je mehr wir uns aber durch die digitalen Medien öffentlich bewegen und uns in der Gemeinschaft dort auflösen, umso begehrenswerter wird die eigene – aus Introspektion gewonnene und sich abgerungene – echte Einzigartigkeit. Der Wunsch, eben so angenommen zu werden, wie man ist.
Der Pianist Jewgeni Igorewitsch Kissin hat es schön in einem Gedicht formuliert: „If I am like others, who will be like me.“ Die Suche nach innen, der Kampf um das Ich und die Wertschätzung des Soseins wie man ist, wird in Zeiten, in denen nur das existiert, was in digitalen Netzwerken sichtbar ist, zu einem Juwel. Aktuell ist dieser Kampf um die Singularität gut in » Karl Ove Knausgards vielbändigen schriftstellerischen Erfolgswerk „Min Kamp“ vom Leben, Sterben, Träumen, Lieben und Spielen nachzulesen.
Für Marken bedeutet das, neben den Initialen auf Luxustaschen oder -hemden, persönlich hergestellte handwerklich hervorragende Unikate („nur für mich“), ein echtes Einlassen in die Beratung und Betreuung der Menschen. Es bedeutet Tools zur Verfügung zu stellen, mit denen der Mensch zu sich selbst, zu seiner Singularität findet. Mit oder ohne digitalen Hirnchips.
Schlüsselfrage der Zukunft: Wo ermöglichen Sie Singularität?
5. Geschichten: Content is King. So lautet schon immer die Formel in den Medien. Das hat sich jetzt verschärft: Das Content-Angebot explodiert, jeder ist sein eigener Journalist, Meinungsmacher, Kommunikator, Vernetzer und Geschichtenerzähler. Ob nun in 140 Zeichen auf Twitter oder in sechs Sekunden auf Vine, in zwei Minuten auf YouTube oder in zehnteiligen horizontalen Serials auf Netflix, Amazon Prime, Apple iTunes oder in 30 Minuten Business-Pitch.
Die Fähigkeit spannender Geschichten – tiefe Charaktere, Heldenreisen – hat die größte Wirkung auf unser Gehirn und wird zur Königsdisziplin in Marketing und Markenführung. Das Digitale führt zu einer Renaissance des Geschichtenerzählens. Ohne Geschichte mit guter Headline keine Aufmerksamkeit. Wir brauchen wieder Märchenerzähler, wir brauchen „Marken Chief Storyteller“. Insbesondere für Videos und Bilder, weniger für Text.
Schlüsselfragen der Zukunft: Welche Geschichten erzählt Ihre Marke? Und welche ermöglicht sie Ihren Kunden zu erzählen?
6. Romantik: In einer digitalen und konsumtiven Oberflächenkultur, der politischen Korrektheit, in einem » „Zeitalter der transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Ulf Poschardt) entwickelt sich eine Sehnsucht nach Mystik, Spiritualität, Romantik, Ruhe und Tiefe. Der Mensch braucht etwas jenseits des „Ich“. Sei es den Fussballclub, die Nation, die Familie oder eben die Religion.
Ein digitalisierter Atheist glaubt zum Beispiel gerne an die Kraft der Natur, geht „wandern“ oder wird ganz „lumbersexual“, ein echter Mann, der sich einen Bart wachsen lässt, Holz hackt, Baumhäuser baut und Gedichte zitiert von „Einsamkeit“ aus dem neuen » Männermagazin „Walden“ http://www.walden-magazin.de/ , das mit dem Claim „Die Natur will Dich zurück“ diese Sehnsucht auf den Punkt bringt. Blockbuster und Fantasyspiele wie „Game of Thrones“, Star Wars und World of Warcraft zeigen die Sehnsucht nach dem Mystischen, dem Möglichen, Geistigen, Unklaren und gleichzeitig Tiefen. Marken nutzen diese Sehnsucht, indem sie selbst in die Tiefe gehen: In die Historie, in den Rohstoff, in die Fertigkeiten, in die Essenz, in das „Nur“. Vom Louis-Vuitton-Koffer bis zum Craft Beer wird diese Tiefe ausgedrückt durch Handwerkskunst, Herkunft, Wurzeln, geheimen Rezepturen und „The Art of“, spürbar und wertvoll.
Schlüsselfragen der Zukunft: Wie romantisch ist Ihre Marke? Wo vermitteln Sie Tiefe und Handwerkskunst? Wo regen Sie die Phantasie Ihrer Kunden an? Gibt es eine „Spiritualität“ jenseits der Funktion?
7. Achtsamkeit: Wir leben in einer überregten Welt, in der alles gleichzeitig und sofort passiert. Der Sinn für nah und fern geht durch die globalen Medien verloren, Freundschaften werden durch lose technische Bindungen aufrechterhalten oder ersetzt und nahezu alle Firmen digitalisieren deren Kontakte mit den Kunden nach dem Motto „Outsourcing to the Costumer“. Wir spüren uns selbst nicht mehr.
Durch die ganze Zerstreuung entsteht die Sehnsucht nach Achtsamkeit (das heißt: nach gerichteter Aufmerksamkeit, also nicht wertend und auf den Moment konzentriert). Achtsamkeit nach innen, um Balance zu finden und nach außen, um sich auf echte Menschen zu beziehen und sorgsam mit der Umwelt umzugehen. Der englische Begriff dazu, die „Mindfulness“ – er wurde von John Kabat Zinn vor 20 Jahren als eine Fusion von Stressforschung und Zen in die Welt gebracht –, erreicht heute über 40 Millionen Google-Treffer.
Der Zukunftsforscher » Matthias Horx sieht „Achtsamkeit“ in seinem Zukunftsreport 2016 als „Kulturtechnik der reifen Individualität in einer konnektiven Welt“, als Weg zur Freiheit, zur Be-Sinnung. Er könnte sogar den Begriff der Nachhaltigkeit ablösen. Achtsamkeit ist die Grundlage der Empathie, des Mitgefühls für mein Gegenüber, für Flüchtlinge oder die ganze Welt. Ganz ohne Schuldgefühl und Wertung, aber mit Verantwortung.
Schlüsselfragen der Zukunft: Wie achtsam ist Ihre Marke? Vermitteln Sie menschliche Aufmerksamkeit und Empathie? Sind Sie ökologisch achtsam? Wie nimmt Ihre Marke die menschliche Verantwortung für Balance und Entwicklung zugleich wahr?.
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